Im Jahr 1921 gründeten Wissenschaftler aus unterschiedlichen Fachkulturen in Breslau (heute Wrocław, Polen) die Historische Kommission für Schlesien. Seitdem wird in dem Expertengremium zur Geschichte des Oderlands geforscht und Wissen weitergegeben. Heute kann die länderübergreifende Vereinigung nicht nur eine beachtliche Zahl von Publikationen vorweisen, sondern auch auf eine bewegte Geschichte zurückblicken. In diesem Jahr feiert sie ihr hundertjähriges Bestehen.
Schlesische Geschichte wird unterdessen als ein Teil der gemeinsamen Geschichte dreier Staaten – Deutschland, Polen und Tschechien – betrachtet. Um dem gerecht zu werden, sucht die Kommission den grenzübergreifenden Austausch zu allen Bereichen der historischen Schlesienforschung. Sie kooperiert mit zahlreichen Institutionen im In- und Ausland, regt Forschungsprojekte an, lädt zu internationalen Konferenzen ein und fördert wissenschaftliche Publikationsvorhaben, die in Zusammenarbeit mit unseren östlichen Nachbarn entstehen. Die Themen, mit denen sich die Kommission auseinandersetzt, sind so vielfältig wie die Herkunft und die Arbeitsfelder ihrer Mitglieder, die nicht nur aus dem gesamten Bundesgebiet, sondern auch aus Polen, Tschechien und Österreich kommen. Aktuell sind es 77 in unterschiedlichen Disziplinen ausgebildete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Sie alle vereint ein umfangreiches Wissen über die Vergangenheit der Region Schlesien.
In ihre grenzüberschreitende Vermittlungsfunktion ist die Kommission allerdings erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten hineingewachsen. Als das Expertengremium vor 100 Jahren in der schlesischen Landeshauptstadt gegründet wurde, waren die Rahmenbedingungen völlig andere als in der Gegenwart. Die landeskundliche Forschung der Kommission wies damals einen engen Bezug zur deutschen Heimat- und Volksgeschichte auf und grenzte sich von der Geschichtsschreibung in den nach dem Ersten Weltkrieg neu entstandenen slawischen Nachbarstaaten, Polen und der Tschechoslowakei, deutlich ab. Die Geburtsstunde der Kommission schlug 1921 im Breslauer Staatsarchiv. Neben Historikern und Archivaren gingen dort auch Kunsthistoriker und Denkmalpfleger, Kartographen, Musikwissenschaftler und Theologen ein und aus. Sie erarbeiteten eine Vielzahl von Fachstudien, konzipierten Nachschlagewerke und leisteten mit gewichtigen Quelleneditionen Grundlagenforschung, die bis heute Bestand hat.
Die Zeit des Nationalsozialismus hinterließ in der Kommissionsgeschichte deutliche Spuren. Im Herbst 1933 musste der damalige Erste Vorsitzende, ein katholischer Geistlicher und Politiker der Zentrumspartei, aus politischen Gründen von seinem Amt zurücktreten. Ihm folgte ein Historiker, der sich mit den Zielen und Methoden des Regimes arrangierte. Einzelne Mitglieder verstrickten sich nach Kriegsausbruch erheblich – sei es als geschichtspolitische Stichwortgeber, sei es durch ihren ganz praktischen „Wissenschaftseinsatz“ im besetzten Polen. Dennoch blieb die Kommission über das Jahr 1933 hinaus ein weltanschaulich offener Wissenschaftsverein, dem weiterhin auch solche Gelehrte angehörten, die der herrschenden Ideologie fernstanden. Die Kriegsumstände brachten die Arbeit der Kommission 1943 zum Erliegen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sah sich die deutsche Schlesienforschung mit der Herausforderung konfrontiert, eine „Landesgeschichte ohne Land“ schreiben zu müssen. Für die Kommission stellte der vollständige Verlust ihres Bezugsterritoriums einen tiefen Einschnitt dar. 1951 wurde der Verein schließlich in der Bundesrepublik Deutschland neu gegründet. Der Neuanfang vollzog sich – ebenso wie im Fall der anderen ostdeutschen Historischen Kommissionen – unter dem Dach des Johann Gottfried Herder-Forschungsrats in Marburg. Nach der Neugründung versuchte die Kommission, an die Breslauer Zeit wieder anzuknüpfen. Man setzte die Herausgabe mittelalterlicher Urkundentexte erfolgreich fort und knüpfte auch bei anderen Themen an die ältere Vereinigung an. An Kooperationen mit Experten aus dem östlichen Europa war zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht zu denken. Es vergingen Jahrzehnte, bis erste Kontakte über den Eisernen Vorhang hinweg möglich wurden. Erst mit dem Ende der europäischen Blockspaltung begann eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen der deutschen, der polnischen und der tschechischen Schlesienforschung. Heute zählt die Kommission zu den renommiertesten Institutionen, die sich in Deutschland mit der Kultur und Geschichte des östlichen Mitteleuropa beschäftigen. Auch die Bundesregierung schätzt die Arbeit des Gremiums und leistet finanzielle Unterstützung.
Zum hundertjährigen Bestehen plante die Kommission ursprünglich einen großen Festakt mit begleitender Jubiläumstagung in Breslau/Wrocław. Aufgrund der Planungsunsicherheit wegen der Corona-Pandemie finden die Feierlichkeiten nun stattdessen im engeren Kreis der Kommission am 9. Oktober 2021 in Görlitz statt. Zu ihrem Jubiläum legt die Kommission ein zweibändiges, mehr als tausend Seiten umfassendes Werk zur eigenen Vergangenheit vor:
Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland/Schmilewski, Ulrich (Hg.): Landesgeschichte im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Die Historische Kommission für Schlesien (1921–2021), Bd. 1: Darstellung, Bd. 2: Dokumentation. Leipzig 2021.
Kontakt für Rückfragen:
Prof. Dr. Joachim Bahlcke (Erster Vorsitzender der Historischen Kommission für Schlesien)
Universität Stuttgart, Historisches Institut, Keplerstraße 17, D-70174 Stuttgart
email: joachim.bahlcke@hi.uni-stuttgart.de